Völkermord in Rwanda – Wie es dazu kam und wie Rwanda heute damit umgeht

Genozide gab und gibt es viele. Man denke nur an den Holocaust, an die Rote Khmer oder auch an den «kulturellen Genozid» an den Uiguren.

Es betrifft zwar unterschiedlichen Länder, in einem unterschiedlichen Ausmass, doch haben sie alle eine Gemeinsamkeit. Eine (willkürliche) Einteilung in Gruppen, gefolgt von der ideologischen Vorstellung aus irgendeinem Grund besser zu sein als «die Anderen».

Rwanda ist dabei nur eines der traurigen Beispiele. Und wie bei all den anderen Genoziden, ging eine Reihe von geschichtlichen Geschehnissen vorher, die mit der systematischen Ermordung von fast 1’000’000 Tutsis gipfelten.

 

Kolonisation Rwandas und der Beginn der Klassifizierung

Rwanda wurde 1884 von Deutschland kolonialisiert. Nach dem ersten Weltkrieg, 1919, ging Rwanda an die Belgier über. Beide Kolonialmächte, sowohl Deutschland als auch Belgien, planten Rwanda mit einer indirekten Herrschaft zu regieren. Das heisst, sie wollten keinen eigenen Herrschaftsapparat errichten, sondern die herrschende Elite der Tutsi unterstützen und sie für ihre Zwecke nutzen.

Die Einteilung in die Stämme Tutsi, Hutu und Twa entstand bereits Ende des 19. Jahrhunderts durch die vorherrschenden europäischen Grossmächte. Die Einteilung geschah anhand Unterschiede im äusseren Erscheinungsbild (die Tutsis waren generell hochgewachsene Menschen), im angeglichenen Charakter und aufgrund des Reichtums. Tutsis galten als Nachkommen der Hamiten, der überlegenen «Herrenrassen» und wurden dank ihrem Ruf der «schwarzen Weissen» von den Kolonialmächten bevorzugt. Nicht nur wurden sie in der Politik eingesetzt, sie trieben die Abgaben ein, überwachten die Zwangsarbeit und durften Kolonialschulen besuchen.

1934 führten die Belgier die Identitätskarte ein, auf deren auch die Rasse vermerkt wurde. Da die Unterschiede in den Äusserlichkeiten zu gering und auch der Charakter sich nicht gut zur Einteilung eigneten, griff man auf den Reichtum zurück: Wer mehr wie 10 Rinder besass war Tutsi, weniger wie 10 Hutu und gar keine Rinder war ein Twa.

Nach und nach wurde Belgien jedoch unzufriedener mit der Zusammenarbeit mit den Tutsis. Nicht alle Vorgaben wurden erfüllt und eigene Gedanken seitens der Tutsi wurden geäussert. So passierte ein Wechsel: Die Hutu wurden zunehmend gefördert und die Tutsi als eingewanderte «Alienrasse» präsentiert.

1959 kamen die Hutus an die Macht und 1962 wurde Rwanda von Belgien unabhängig. Was blieb, waren die vergifteten Ansichten der «einheimischen» Hutus (82% der Bevölkerung) und den «zugewanderten» Tutsis (15% der Bevölkerung).

 

Interahamwe und der Beginn des «Hutu-Powers»

Über 700’000 Tutsis wurden infolge dessen des Landes verwiesen. Vielen von ihnen wurde die Rückkehr trotz zahlreicher, auch internationaler Versuche verwehrt. Einige von ihnen schlossen sich der RPF (Rwandan Patriotic Force) an. Diese forderte gleiche Rechte für Tutsis wie für Hutus, gerechte Gerichtsverfahren und die Möglichkeit für die verwiesenen Tutsis sicher in ihre Heimat zurückzukehren.

Diese rassistischen Ansichten in Rwanda wurden zunehmend extremer. So erfreute sich die Interahamwe, eine höchstgefährliche Miliz, ins Leben gerufen durch die MRD (die Partei des Präsidenten), immer grösserer Beliebtheit. Ihre Botschaft von «Hutu-Power» und «Hutu-Reinheit» auf Kosten der Tutsis wurde durch extremistische Medien verbreitet.

Die 10 Gebote für Hutus und der Beginn des Bürgerkrieges

1990 überschlugen sich dann die Ereignisse. Zum einen wurden «die 10 Geboten für Hutus» veröffentlicht (siehe rechtes Bild – Quelle: Genozidmuseum Kigali) und zum anderen rückten am 1. Oktober 1990 die RPF in Rwanda ein.

Was folgte, war ein Bürgerkrieg, der erst mit dem Sieg der RPF im Juli 1994 enden sollte. Präsident Habyarimana suchte Unterstützung bei Frankreich, Belgien und Zaire. Alle drei gewährten diesem Wunsch. Durch die militärische Hilfe konnte Präsident Habyarimana den ersten Angriff des RPF zurückzuschlagen. Die belgischen Streitkräfte und die Truppen Zaires verliessen daraufhin das Land. Die Franzosen blieben weiterhin vor Ort und stärkten die Macht Habyarimanas. Französische Offiziere engagierten sich in der Ausbildung rwandischer Militäreinheiten und verhalfen dem Militär von ursprünglich 5200 Mann (1990) zu einer Stärke von 35’000 Mann (1993) zu wachsen.

Gleichzeitig kaufte Rwanda für 12 Mio USD Waffen bei einem französischen Waffenlieferant ein. Mit einem Darlehen der französischen Regierung.

Doch obwohl Habyarimana westliche Kräfte glauben liess, er arbeite an einer Demokratisierung des Landes, tat er insgeheim das Gegenteil. Oppositionelle Stimmen wurden unterdrückt, Radiosender, die gegen Tutsis hetzten, unterstützt und Gewalttaten oder Massakern an geschätzt 2000 Tutsis oder Hutu-Oppositionellen gefördert oder hingenommen.

Einen zweifelhaften Friedensvertrag

Währenddessen gab es immer wieder Vorstösse und Niederlagen der RPF. 1992 kam es in Arusha, Tansania, zu Friedensverhandlungen. In den Diskussionen ging vor allem darum, wie es den Tutsis ermöglicht werden könnte zurückzukehren und wie sie ihre Besitztümer wiedererlangen könnten. Insgesamt wurden vier Abkommen erarbeitet und am 4. August 1993 schliesslich der finale Friedensvertrag unterzeichnet. Ein Kernelement dessen war die Stationierung von Blauhelmsoldaten in Rwanda.

Ein Grossteil der MDR, der Präsidentenpartei, sprach sich bereits bei der Unterzeichnung gegen den Vertrag und dessen Erfüllung aus und die Extremisten wurden nur noch mehr bestärkt, da sie sich von Präsident Habyarimana verraten fühlten.

Théoneste Bagosora, ein hochrangiger, rwandischer Militärkommandant, der später eine Schlüsselfigur im Genozid werden würde, verliess die Arusha gar mit den Worten «er ginge nach Hause, um eine Apokalypse vorzubereiten.»

 

Jean-Pierre und seine nicht ernst genommene Warnung

Am 10. Januar 1994 berichtete ein Informant mit dem Codenamen «Jean-Pierre», die Blauhelmtruppen darüber, dass die Interahamwe, die radikale Miliz der Präsidentenpartei, alle Tutsis in Kigali registrierten und einen Vernichtungsplan austüftelten, mit welchem sie 1000 Tutsis innert 20 Minuten töten konnten. Er erzählte zudem, dass 1700 Interahamwe Kämpfer in rwandischen Armee Camps ausgebildet worden waren. Bis zu 300 Kämpfer pro Woche. Und dass der Präsident jegliche Kontrolle über die Extremisten verloren hätte.

Der Informant «Jean-Pierre» verschwand nach dieser Warnung. Sein Schicksal ist bis heute ungeklärt.

Der kanadische General der Blauhelmsoldaten, Roméo Dallaire, leitete die Nachricht «Jean-Pierres» per Fax an die UN weiter. Der damalige Verantwortliche für die UN-Auslandseinsätze war Kofi Anan. Dessen Büro wies die stationierten Dallaire an, das Gespräch mit Präsident Habyarimana zu suchen und ansonsten nichts zu unternehmen. Auch weitere Gesuche und Bitten seitens der Dallaire wurden von Kofi Anan abgeblockt und nicht weiter an den UN-Sicherheitsrat geleitet.

 

Der 6. April 1994

Am 6. April 1994 um 20:23 wurde das Flugzeug des Präsidenten Habyarimana durch Bodenraketen abgeschossen. Wer für das Attentat verantwortlich ist, ob die PRF oder die Hutu-Miliz oder jemand anderes, ist bis heute unklar. Fakt ist jedoch, dass die Nachricht des Todes des Präsidenten sich in Windeseile verbreitete, die Extremisten, allen voran Bagosora, die Macht übernahmen und ihren Plan in die Tat umsetzten.

Bereits um 21:15 wurden Strassensperren errichtet, Häuser durchsucht und wenig später waren die ersten Schüsse zu hören.

Zunächst wurden oppositionelle Hutus, prominente Tutsi und Befürworter des Arusha-Friedensabkommens anhand der vorbereiteten Listen aufgespürt und umgebracht. Auch die Premierministerin Rwandas, Agathe Uwilingiyimana, und zehn belgische Friedenssoldaten, die zu ihrem Schutz abgestellt waren, wurden gefangen genommen und getötet.

 

Hundert Tage Völkermord

Die Gewalttaten bereiteten sich in einer rasenden Geschwindigkeit über das ganze Land aus. Während den nächsten 100 Tagen wurden geschätzt zwischen 800’000 und 1’000’000 Tutsis und Hutus, die sich nicht am Genozid beteiligten oder sich sogar aktiv dagegen einsetzen, getötet. Als Waffen wurde alles gebraucht, was gefunden werden konnten. Allen voran Macheten oder Knüppel. Die Grausamkeiten während des Völkermordes sind unbeschreiblich. Es ging nicht nur darum, zu morden, sondern auch möglichst viel Leid und Schrecken zu verbreiten. Dabei wurde jegliche Art von Folterung angewandt. Frauen und Mädchen wurden systematisch vergewaltigt. Laut UNICEF wurden während des rwandischen Genozids zwischen 250’000 und 500’000 Frauen und Mädchen Opfer einer oder mehreren Vergewaltigungen. In geschätzt 2000 bis 5000 Fällen davon, wurden die Opfer durch die sexuellen Gewalttaten zu Mütter. Noch dazu sind viele der überlebenden Opfer heute HIV-positiv, da gezielt Hutu-Kämpfer für die Vergewaltigungen eingesetzt wurden, von denen man wusste, dass sie Aids hatten.

Weiter war es auch eine verbreitete Taktik, Tutsi-Eltern zu zwingen ihre eigenen Kinder umzubringen oder umgekehrt. Auch vor Nötigung zu Inzest zwischen Blutsverwandten, vor Pfählungen oder gar zum Zwang von Kannibalismus wurde nicht zurückgeschreckt. Grössere Menschenmengen wurden oft zusammengepfercht, eingesperrt und bei lebendigem Leib verbrannt. Auch Gliedmassen abtrennen, war verbreitet. Dies um die Opfer an ihrer Flucht zu hindern, aber auch um den Gedanken von «zurechtstutzen» gerecht zu werden. Wie von den Kolonialmächten beschrieben, waren Tutsis tendenziell eher grossgewachsen, Hutus eher kleiner …

 

Die internationale Reaktion

Die Reaktion der UN auf die Gräueltaten ist bis heute stark kritisiert. Nach der Ermordung der zehn belgischen Soldaten, reduzierte die UN die Blauhelmtruppen von ursprünglichen 2500 Mann auf 270 Mann. Weil ein Teil der Soldaten jedoch nicht ausgeflogen werden konnte, verblieben 570 im Land. Belgische und italienische Elitetruppen halfen zudem 400 Ausländern aus Rwanda auszufliegen. Rwander wurden keine ausgeflogen. Auch nicht solche, die für ausländischen Institutionen gearbeitet hatten und nun bedroht wurden. Einen Versuch, die Gräueltaten zu stoppen, wurde nicht gewagt.

Als jedoch im April / Mitte Mai 1994 Bilder von riesigen Flüchtlingsströmen publik wurden, änderte sich die Haltung der UN. Weitere Blauhelmsoldaten sollten nach Rwanda geschickt werden und den Flüchtlingen beistehen. (Obwohl man heute davon ausgeht, dass die 570 bereits stationierten Soldaten gereicht hätten, um den Genozid zu beenden.) Doch die Mission verzögerte sich wegen diversen diplomatischen Entscheidungen. So fasste sich Frankreich ein Herz. Die französischen Truppen sollten im Südwesten des Landes, eine Sicherheitszone bilden und diese aufrechterhalten. Erklärter Zweck war es, die Zivilbevölkerung zu schützen sowie die Verteilung der Hilfsgüter zu fördern. Die Operation stiess von Beginn weg vor allem bei der RPF auf Kritik. Das Gebiet, welches rund einen Fünftel Rwandas ausmacht, war Zufluchtsort von unzähligen geflüchteten Hutu-Kämpfern. Sie waren aus Angst vor Vergeltungsschlägen der RPF, in dieses Gebiet geflohen. Ein weiterer Kritikpunkt war, dass die französische Interventionsgruppe weder die Hutu-Milizen entwaffneten, noch die Flucht der Täter und Regierungsangehörigen ins Ausland verhinderten.

 

Juli 1994 – Die RPF übernimmt die Macht

Als die RPF im Juli 1994 den Bürgerkrieg schliesslich für sich entscheiden konnten, endete der Völkermord an den Tutsis. Es bleibt jedoch ein fahler Beigeschmack dieses Sieges. Denn die RPF ist keineswegs die Heldenarmee, wie sie sich gerne präsentiert. Auch die RPF tötete mehrere zehntausende Menschen in Gefechtshandlungen und in den anschliessenden Versuchen eroberte Gebiete zu kontrollieren. Auch weit nach den Kampfhandlungen wurden Massaker an öffentlichen Veranstaltungen oder willkürliche Erschiessungen registriert. Diese kamen in einem Ausmass vor, die auf Kenntnis und Duldung der RPF, wenn nicht sogar auf eine gezielte Planung hindeuten. Erst im August / September 1994 liessen die Gewalttaten aufgrund internationalen Druckes nach. UN-Vertretern, Menschenrechtsorganisationen und Journalisten wurde jedoch verwehrt Hinweisen bezüglich Menschenrechtsverletzungen durch die Rebellen nachzugehen. Laut einem Bericht des UNHCR wurden 25’000 bis 45’000 Menschen Opfer von Menschenrechtsverletzungen durch die RPF. Dieser Bericht wurde jedoch später von der UNHCR dementiert und verschwand.

Auch ist, wie bereits erwähnt, bis heute ungeklärt, wer tatsächlich das Flugzeug abgeschossen und so den früheren Präsidenten und die gesamte Crew getötet hat. Ein Restverdacht bleibt, dass es die RPF selbst gewesen war. Paul Kagame, der frühere Anführer der RPF und heutige Präsident Rwandas, wurde unter anderem auch deshalb von verschiedenen Nationen angeklagt, aber nie belangt.

 

 Rwandas Politik heute und persönliches Fazit

Paul Kagame regiert seit der Machtübernahme 1994 Rwanda. Er vertritt eine Wiederaufbau- und Versöhnungspolitik. Die Erfahrungen durch den Völkermord beeinflussen die Politik dahingehend, dass ein starkes Sicherheitsgefühl gewünscht wird. Dies äussert sich zum einen durch eine starke Militärpräsenz im Lande, aber auch an der stark eingeschränkten Pressefreiheit, die immer wieder stark kritisiert wird. Politische Gegner gibt es öffentlich keine. Zu gross ist die Gefahr einer Verhaftung.

Die Einteilung Tutsi, Hutu oder Twa ist nicht mehr erlaubt und wurde auch aus den Personalausweisen gestrichen. Alle sind Banyarwanda, Rwander. Das Land hat eine neue Flagge und eine neue Hymne.

 

Doch unserer Meinung nach, bräuchte es nun auch eine neue Regierung. Eine unabhängige, neue Partei. Die jetzige politische Situation hinterlässt von aussen betrachtet einen fahlen und nicht abgeschlossenen Beigeschmack.

 

Lektüre und Filmempfehlungen zum Thema (nicht abschliessend)

Die Welle von Morton Rhue (Buch oder Film) – Zur Verbildlichung, wie schnell sich eine Gruppendynamik entwickeln kann

Hotel Rwanda (Film)

Left to tell – Immaculée Ilibagiza (Buch)

 

Quellen

Genozid Museum in Kigali

Persönliches Gespräch mit NGO-Mitarbeiterin in Uganda

https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkermord_in_Ruanda

https://de.wikipedia.org/wiki/Ruanda

https://de.wikipedia.org/wiki/Th%C3%A9oneste_Bagosora

https://de.wikipedia.org/wiki/Rom%C3%A9o_Dallaire